Netflix' John Wick - Tyler Rake: Extraction
Der neue Netflix Film "Tyler Rake Extraction" kann mehr, als man ihm auf den ersten Blick zutraut!
Auf den ersten Blick ein uninteressanter Film. Eine typische Netflix Eigenproduktion, bei der man einfach ein berühmtes Gesicht vor den Karren gespannt hat, die sich aber trotzdem irgendwo zwischen Belanglosigkeit und Mittelmaß einpendelt. Aber der Eindruck täuscht und Tyler Rake: Extraction kann mehr, als man ihm zunächst zutrauen möchte.
Der Film basiert auf dem Comic „Cuidad“ aus dem Jahr 2014. Darin wird die kleine Tochter eines südamerikanischen Drogenbarons von seinem Rivalen entführt und gefangen gehalten. Der berüchtigte Söldner Tyler Rake wird angeheuert, um das Mädchen aus „Ciudad del Este“ in Paraguay zu befreien – doch schnell gerät er zwischen alle Fronten und ist mit dem Mädchen auf sich alleine gestellt, in einer Stadt, in der alle hinter ihnen her sind. Für den Film hat man das Entführungsopfer zu einem Jungen gemacht und das Geschehen nach Indien und Bangladesch verlagert.
Viele Marvel-Köpfe am Werk
Der Rest der Ausgangssituation ist identisch. Das Drehbuch haben die Autoren des Comics selbst übernommen, und die beiden kennt man. Es sind Anthony und Joe Russo. Die Brüder haben bei zahlreichen Filmen des Marvel Cinematic Universe als Autoren und Regisseure mitgewirkt, unter anderem am großen Final-Zweiteiler „Avengers: Infinity War“ und „Avengers: Endgame“.
Neben Chris Hemsworth, den die meisten als Thor kennen, sind dies aber nicht die einzigen MCU-Macher, die an diesem Film beteiligt sind. Der Regisseur, der ehemalige Stuntman Sam Hargrave war an diversen Marvelfilmen beteiligt. Er hat zusammen mit seinem Bruder Daniel Hargrave mehrfach Captain America in Actionszenen gedoubelt und war zuletzt sogar der Stunt-Koordinator und somit für sämtliche Kampfszenen verantwortlich. Das merkt man dem Film nicht nur optisch an, dieser Background ähnelt auch so sehr einem anderen Film, dass sich der Vergleich geradezu aufzwängt.
John Wick - Die Ära der Stuntman-Regisseure?
Mit „John Wick“ hat der Regisseur Chad Stahelski uns nicht einfach nur einen guten Actionfilm beschert, ein Mini-Franchise geschaffen und dem fast schon aussortierten Keanu Reeves nebenbei einen Karriere-Reboot ermöglicht. Nein, er hat das Action-Kino ein ganzes Stück weit revolutioniert. Und das wurde vom Publikum erkannt und belohnt. Er hat den Konventionen der Actionfilme ein Glanzstück entgegengesetzt. Keine hektische Wackelkamera, keine zehn Schnitte pro Sekunde sondern offen gefilmte, übersichtliche, handgemachte Action. Und was war Stahelski, bevor er mit dem ersten „John Wick“ Film sein Regie-Debut gab? Richtig, er war Stuntman.
Nun übernimmt wieder ein solcher das Ruder, wieder bei einem Film, bei dem der Name der Hauptfigur der Titel ist, bei dem die Story schnell erzählt und die Action das Highlight ist. Netflix möchte mit „Tyler Rake: Extraction“ seinen eigenen John Wick schaffen. Und das scheint zu gelingen. Aktuell ist der Film der meistgeschaute auf der Streaming-Plattform und auch die Arbeit am Drehbuch für den zweiten Teil wurde schon bestätigt. Doch was taugt der Film denn nun? Denn ein „Netflix-John-Wick“ klingt nach einem Konzept, das auch gründlich schiefgehen könnte.
Kurzer Spaß – tolles Handwerk
Um es kurz zu machen: es ist nicht schiefgegangen. So wie es bei der Comic-Vorlage vor allem um das Art-Work geht, die toll gezeichnet Bilder, so geht es bei der Verfilmung um toll gemacht Action, die in eine spannende, aber nicht allzu komplexe Story eingebaut ist. Die Hauptfigur ist ein kleines bisschen Klischeebelastet, aber, ähnlich wie John Wick, durchaus eine Person mit Hintergrund und einer spannenden Vergangenheit. Man begleitet ihn durch moralische Zwickmühlen und erlebt einen zwiegespaltenen Krieger, der seinen Weg finden, oder in diesem Fall eher freischießen muss.
Für mich war das Highlight eine 12-minütige Plansequenz in der ersten Hälfte des Films. Ohne einen sichtbaren Schnitt wird hier nacheinander eine Schießerei, eine Verfolgungsjagd durch ein Armenviertel, ein klaustrophobischer Häuserkampf, dann ein brutaler Zweikampf auf offener Straße und anschließend noch eine Verfolgungsjagd gezeigt – ziemlich beeindruckend gemacht. Das Stilmittel der „Plansequenz“ genießt ja seit dem Kriegsfilm „1917“ eine gewisse Bekanntheit und Popularität – Fans von gutem Filmhandwerk wie mich freut das sehr.
An anderer Stelle versucht sich der Film an einem sehr sensiblen Thema. Unter den bewaffneten Helfern des Entführers befindet sich nicht nur die gesamte (korrupte) Polizei von Dhaka, sondern auch viele Kinder aus den Slums. Was tun, wenn man auf einmal von 15-jährigen beschossen wird? Zurückschießen? Ein schweres Thema, das der Film nur andeutet, dann aber umgeht und sich nicht traut, es in den Fokus zu rücken. Es hätte die Atmosphäre des Films wohl im nu von „John Wick“ in Richtung „Der Soldat James Ryan“ verschoben. Das ist aber nicht die Ambition des Films uns seiner Macher.
Visueller Leckerbissen mit (zu) wenig Tiefgang
Was am Ende bleibt, ist ein Film mit dem Story-Tiefgang einer Call of Duty Mission, der immer dann am besten ist, wenn nicht versucht, allzu tiefgründig zu sein und sich auf das konzentriert, was er kann – nämlich handwerklich grandiose Action zu liefern, die man ohne Zweifel im Gedächtnis behält.